Merkwürdige Gegend
Gewitterfarben, was für ein Wort. Ich konnte es hören, hatte es sozusagen im Ohr und schüttelte unwillkürlich und unwillig den Kopf. Ich wollte mich nicht weiter mit der Geschichte beschäftigen. Auch nicht mit der Unbekannten, die ich offenbar doch kannte, flüchtig jedenfalls. Mein Gehirn war anderer Ansicht. Es beharrte auf einem Puzzle, das mein Gedächtnis auch ohne mein Einverständnis zusammenfügen würde. Erwartete aber trotzdem meine Mitarbeit. Hatte ich mich zu neugierig, zu offen auf das Spiel eingelassen? Mit dieser Frau, die mir noch nicht einmal ihren Namen verriet.
Und ob sie an dem von ihr genannten Ort an einem Seminar von mir oder vor Jahren an derselben Fortbildung teilgenommen hatte. Vielleicht arbeitete sie auch in dem Seminarhaus, oder sie hielt sich zur selben Zeit dort auf, und wir waren irgendwie ins Gespräch gekommen. Es gab so viele Möglichkeiten.
Ich cremte mir die Füße, sorgfältig, und als ich mich aufrichtete, fiel mir der Falke ein, ein weiterer Puzzlestein. Zog hoch oben seine Kreise, oder stand er in der Luft? Dann, ganz plötzlich, ließ er sich fallen. Gerade in dem Moment, in dem das Mädchen hochsah. Unglaublich, nicht wahr? Aber vielleicht auch nicht, in dieser unbewegten Landschaft. In der jede Bewegung und jedes Geräusch Aufmerksamkeit auf sich zog. War es wirklich ein Falke gewesen? Auch ein Adler würde in die Landschaft passen. Oder ein Bussard? Lassen Bussarde sich fallen, wenn sie eine Maus erspähen? Eine Schlange, irgendein kleines Tier. Stoßen sie mit angelegten Flügeln herunter wie ein Ding, das aus dem Himmel fällt? Und fangen knapp über dem Boden den Sturz ab, die Fänge vorgestreckt, bereit, zuzugreifen?
Und das Mädchen? Nein, kein Mädchen, dachte ich, während ich mir die Haare fönte. Jedenfalls kein Kind mehr. Sie muss älter gewesen sein, eine junge Frau. Ich hatte sie ja nur von hinten gesehen, und nur in meiner eigenen Vorstellung. Trug sie einen Rucksack? Wer würde schon ohne Rucksack ganz allein durch eine so verlassene Gegend wandern. Durch diese Schlucht. Eine ausgewaschene Felsrinne, über deren Rand die Frau nicht sehen konnte. Eine Art Hohlweg, endlos in der Hitze.
Sie sah also hinauf und sah den Vogel. Blieb stehen und beobachtete, wie er aus dem Himmel stürzte. In dieser Hitze zwischen den rotbraunen Steinen. Kein Schatten, kein Laut außer ihren eigenen Schritten.
Ich nahm die restlichen Sachen aus dem Koffer und verstaute sie. Wo war mein Buch? Und wo die Unterlagen, die ich morgen brauchen würde. Ich setzte mich an den Tisch, machte mir ein paar Notizen, legte alles bereit. Dann schrieb ich die Szene auf, vor allem, um sie loszuwerden. Um sicher zu stellen, dass sie sich nicht in meine Träume schlich.
Aber der Teil meines Gehirns, der mit dieser Erinnerung beschäftigt war, wollte sie noch nicht zur Seite legen. Ließ mich beim Sturzflug des Vogels verweilen. Die Frau war ihm mit den Augen gefolgt, unwillkürlich, bis er aus ihrem Blickfeld verschwand. Hatte ihn vielleicht nicht einmal als Vogel erkannt, nicht sofort jedenfalls. Ihr Blick musste im selben Moment an der Felswand hängengeblieben sein. Die hier vermutlich gar keine Felswand war, nicht unnahbar, nicht senkrecht aufsteigend. Möglicherweise auch kein reiner Fels. Es konnte Erde zwischen dem Gestein sein, wenn auch kein Gras oder niedriges Gestrüpp. Und ein Pfad. Die Frau sah ihn, er war steil, aber begehbar. Sie stieg hinauf. Um herauszufinden, was sich da oben befand, zu beiden Seiten der Felsrinne? War es da oben genau so trostlos. Wohin führte der Weg. Und wo war der Vogel, dem sie von jetzt an oder vielleicht schon seit einiger Zeit folgte.
An der Stelle ließ mich mein Gedächtnis im Stich.
Mein Gedächtnis? Hatte ich die Geschichte so erinnert, wie die Frau sie damals erzählt hatte? Oder, wahrscheinlicher, selbst weitergesponnen, umerfunden. Mit anderen Worten, war das jetzt ein Filmriss oder eher das Ende der Spule? Die Frau kam nie oben an. Ich war auf einmal ernsthaft interessiert, das Panorama zu finden. Aber ich sah nur die Frau, die sich auf halber Höhe abmühte. Ich hätte sie, wie auf einem Brettspiel, selbst nach oben versetzen müssen, um den Film wieder in Gang zu bringen.
S. 21-23